WIEN-TAGEBUCH: 16. JÄNNER 2016
IM PRATER: MÖWENFLUG AM LUSTHAUSWASSER
Vom Lusthaus ausgehend, gelangt man bald zum Lusthauswasser. Noch ist eine große Fläche eisfrei, und da tummeln sich die Möwen.
Am Himmel ein zart gezeichneter Vogelschwarm.
Schon kommen sie herab, über dem Eis, zur freien Wasserfläche:
Das schönste Möwengedicht ist von Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898)
MÖWENFLUG
(vor 1881 entstanden, 1883 erstmals gedruckt)
Möwen sah um einen Felsen kreisen
Ich in unermüdlich gleichen Gleisen,
Auf gespannter Schwinge schweben bleibend,
Eine schimmernd weiße Bahn beschreibend,
Und zugleich in grünem Meeresspiegel
Sah ich um dieselben Felsenspitzen
Eine helle Jagd gestreckter Flügel
Unermüdlich durch die Tiefe blitzen.
Und der Spiegel hatte solche Klarheit,
Daß sich anders nicht die Flügel hoben
Tief im Meer als hoch in Lüften oben;
Daß sich völlig glichen Trug und Wahrheit.
Allgemach beschlich es mich wie Grauen,
Schein und Wesen so verwandt zu schauen,
Und ich fragte mich, am Strand verharrend,
Ins gespenstische Geflatter starrend:
Und du selber? Bist du echt beflügelt?
Oder nur gemalt und abgespiegelt?
Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen?
Oder hast du Blut in deinen Schwingen?
Quelle: Der tausendjährige Rosenstrauch. Deutsche Gedichte aus tausend Jahren. Ausgewählt und eingeleitet von Felix Braun, Neue veränderte und vermehrte Ausgabe, Wien 1953 (Copyright 1949), S. 507-508.
Oft erscheinen die weißen Vögel schwarz gegen den grau-wolkigen Nachmittagshimmel.
Flügelschlag, gespiegelt.
Geflatter über der Eisdecke.
Das Dunkle ist dem Hellen oft sehr nahe.
Im Anflug.
Ruhepause am Eisrand.
Flatterndes Übereinander, flügelschlagend, wie ein lebender Turm.
Hängt hier schon das Unheil über dem Möwenflug?
Am Rande, zwischen Eis und Wasser.
Möwe, weiß, furchtlos in schwarzer Wasserwelt.
Trinkend, schlürfend? wellenschlagend.
Möwe und Ente – zweifache Symmetrie in der Spiegelung.
Wenige Tage später, am 20. Jänner 2016, ist das Lusthauswasser fast ganz zugefroren, nur eine kleine eisfreie Stelle dient den Teichhühnern und Meisen als Tränke. – Aber davon ein andermal.
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Fotos: Copyright Dr. Waltraud Neuwirth, Wien
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